Unbedingt angesprochen gehört eine Vorstellung, die du im Kopf hast, während du überlegst, ob du mitkommen möchtest. Für Dich ist sie absolut selbstverständlich und du meinst, anders könnte man gar nicht darüber denken.
Ich meine deine Angst vor den Gefahren, die daraus rühren, dass du ein Angebot von einem „Fremden“ prüfst. Du hast allerlei Ängste, da du von „Pedos“ gehört hast, von Entführungen und von Dingen, die sicher gefährlich sein könnten, obgleich du sie noch gar nicht weisst. Eines ist jedenfalls klar: es muss sehr gefährlich sein. Deine Eltern brauchst du gar nicht erst zu fragen, du weisst schon vorab: sie würden sowieso Nein sagen. Weil sie nicht wollen, dass du mit Fremden mitgehst.
Und ich sage dir: nein. Diese Angst ist nicht vernünftig. Man kann darüber auch ganz anders denken. Überlege mal, was du heute in der Welt nicht von Fremden bekommst. Deine Eltern bestellen von Fremden Kleidung, Weihnachtsgeschenke, Haushaltsmaschinen und und und. Jeden Tag fahren hunderte Pakete in Lieferwagen durch deine Siedlung, die Fremde Fremde schicken. Dazu verabreden sie sich online und tauschen Adressen aus. Auch Ferien buchen Deine Eltern bei Fremden. Oder ist der Hotelinhaber, bei dem ihr letzten Sommer übernachtet habt, ein Bekannter? Ist es der Chef der Bahn AG, mit der ihr euch verspätet habt, äh, gefahren seid? Usw. etc.
Für deine Eltern ist es völlig normal, Verabredungen mit Fremden zu treffen. Anders würde die Welt gar nicht funktionieren. Und auch deinen ersten Urlaub werden sie bei Fremden für dich buchen.
Es sind nicht deine Eltern das Problem. Sondern dein eigenes Denken. Natürlich ist das hier kein Vorwurf an Dich. Sondern ein Anfang, der eine Veränderung sein könnte. Lass uns mal überlegen, woher deine Angst kommt. Ich kann dir soviel sagen: weil du ganz anders aufgewachsen bist als ich. Und deine Eltern.
Wahrscheinlich bist du zum Kindergarten gegangen. Deine Eltern haben dich allmorgendlich hingebracht und wieder abgeholt. Genauso ging es weiter in der Schule. Zu der sie dich morgens hinbringen und abends wieder abholen. Dort wirst du vormittags von Lehrern und danach im Hort betreut. Ausserdem gibt es vielleicht einen Sportverein und eine Musikschule. Zu der deine Mutter dich bringt und von der sie dich wieder abholt. Dann wirst du noch zum Therapeuten geschickt. Der dich auch betreut und von der deine Mutter…
Du weisst, was ich meine. Du musst immer betreut und beaufsichtigt werden, weil du beschützt werden musst. Vor gefährlichen Fremden da draussen in der Welt. Im Grunde sind alle Menschen ausser deinen Eltern und denen, die sie beauftragt haben, für dich sehr gefährlich. Das hat sich in deinen Kopf eingebohrt wie in den aller anderen Jugendlichen heute, die so aufwachsen.
Und nein, das ist nicht selbstverständlich. Das war mal anders. Als ich zur Schule gegangen bin, da bin ich – wie die Sprache verrät: gegangen. Niemand hat mich gefahren. Und das von der ersten Klasse an. Genauso bin ich zurück gegangen und zum Sport und zur Musikschule. Nur nicht zum Therapeuten. Den gab es noch nicht (und es ging ohne ihn).
Weisst du, warum meine Mutter – wie im Grunde auch alle anderen Eltern – glaubten, dass man das machen kann? Weil es soviele andere Menschen da draussen gibt. Verstehst du: die anderen Menschen wurden nicht als Gefahr angesehen, vor der sie dich beschützen müssen. Sondern als das Sicherheitsnetz, das aufgespannt ist vor den Gefahren! Je mehr fremde Menschen es gibt, umso sicherer bin ich als Kind.
Als Kinder haben wir zuerst unsere Nachbarschaft erkundet, dann die Stadt, dann den Raum zwischen den Städten – mit dem Fahrrad bin ich 20 km zur Schule und zurück gefahren. Irgendwann wollten wir das Land erkunden, in andere Städte fahren. Und dann das Ausland, Reisen machen, allein, mit Freunden oder als Jugendaustausch. Und alles ohne die Eltern. Und ohne dass sie für uns etwas vorbereitet hätten. So wird man mutig. Und kennt „soziale Angststörung“ nicht.
Ist die Welt böser geworden wegen der „Pedos“? Nein, das ist vollkommener Unsinn. Solche Leute hat es auch früher schon gegeben. Im Internet findest du zwar nichts, aber nur weil man sie damals nicht so nannte. Dieses – falsch geschriebene – seltsame Wort gibt es erst ca. zehn Jahre in der denglischen Sprache. Aber unter anderen Bezeichungen hat es solche Männer (und Frauen) immer schon gegeben. Es gibt sogar Filme in Schwarz-Weiss zum Thema. Ihre Zahl hat sich nie verändert.
Aber: Gott sei Dank sind nur wenige Menschen so und die anderen werden eingreifen, wenn so etwas geschieht. Das dachten meine Eltern.
Erst du bist so aufgewachsen, dass man die vielen, vielen guten Menschen vergisst und nur an den einen Bösewicht denkt. Erst in den Köpfen deiner Generation ist eine irre Angst vor den „Fremden“. Und mit ihr explodieren Eure Angststörungen, soziale Ängste und welche Ängste auch immer. Es ist doch kein Wunder, dass du soziale Ängste hast, wenn du von Anbeginn an lernst, dass du überall Angst haben SOLLST. Wie kann es denn anders sein? Und wie kann man auf die Idee kommen, dass man bei einem Therapeuten, den Mama ausgesucht hat, Angst vor den Fremden überwinden könnte? Das ist so logisch, wie Schwimmen im theoretischen Unterricht mit einem Tafelbild zu lernen.
Einfacher wäre es für mich in der Tat, wenn ich ein Reiseunternehmen aufbauen würde, das sich direkt an deine Mutter wendet, anstatt zuerst an Dich. Was erfordert, dass DU Dich erstmal entscheiden und dann an deine Mutter herantreten musst. Aber, ehrlich gesagt, das will ich nicht. Ich will nicht mit Kiddies in Urlaub fahren, die ihre Mama mir zwangszugewiesen hat, weil sie findet, dass es gut für Kindchen wäre, jetzt Autofahren zu lernen. Wie sie alles für ihr Kind entscheidet.
Davon habe ich bereits zehn Monate im Jahr in der Schule genug. Ich unterrichte hier in einem Land, das auf dem Weg der Helikoptererziehung sogar schon weiter ist als ihr. Hier gehen Mütter schon die Speisesäle der Schulen mit und kommen die siebzehnjährigen Kinder in Mamas Begleitung zum Vorstellungsgespräch. Klar – der Chef dort und die künftigen Kollegen sind ja Fremde, vor dem Dich Mama beschützen muss. So wird es bald in Deutschland sein, wenn Du demnächst Mutter bist. Eine, die schon als Kind unter Mamas totalem Schutz aufgewachsen ist.
Ich bleibe dabei, dass ich dieses Angebot zuerst dir unterbreite. Damit Du Dir überlegst, ob du das möchtest und anschliessend deine Mutter fragst. Nicht deine Mutter ist jetzt das Problem, sondern es ist die Frage, ob Du erstmal eine Entscheidung treffen möchtest, was Du willst. Ob Du deine Ängste weiter pflegen und ausbauen oder sie überwinden möchtest.
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