Wer verletzt sich selbst?

SV ist eines der Phänomene, die besonders stark an die Pubertät und das weibliche Geschlecht geknüpft ist. Männliche oder ältere Selbstverletzer sind sehr selten. Genaue Zahlenangaben sind nicht möglich und in vielen Artikeln und Publikationen behauptete Zahlen sind bei genauerem Hinsehen wie immer lediglich Schätzungen; also Ausdrücke der Phantasie des jeweiligen Schätzers. Der Autor behandelt sie hier wegen der relativen Irrelevanz anderer Zielgruppen als Spielart weiblicher Pubertät.

Warum verletzen sich Menschen selbst?

Eine besondere Anlage für SV scheinen pubertierende Mädchen zu haben. Ich habe darum ein Erklärungsmodell für dieses Verhalten entwickelt, das zugleich auch eine Erklärung dafür ist, warum es vor allem Mädchen ab der Pubertät sind, bei denen die SV so enorm präsent ist.

Den Durchbruch ermöglichte eine Beobachtung, die ich in der Zeit meines Praktikums in der Gynäkologie eines Krankenhauses machte und die mich sehr beschäftigte. Wenn man Frauen in der Geburt sieht, dann sieht man in Form der Wehen einen Schmerz von offenbar geradezu gewaltigem Ausmass. Welche Gewalt auf die gebärenden Frauen einwirkt, ist unbeschreiblich. Als Mann kann man sich leicht fragen, ob man jemals etwas vergleichbares erlitten hat. Der Witz vom an Zahnschmerz sterbenden Mann muss hier seinen Ursprung haben.

Und dennoch sind die Frauen glücklich. Es ist dieses Glück kein intellektuelles, das aufgrund von Betrachtungen über den Sinn des Lebens oder die Freude an einem Kind entstanden ist, denn zu philosophischen Betrachtungen ist eine gebärende Frau nicht aufgelegt. Sie hat im Moment andere Sorgen. Dieses Glück kommt irgendwo direkt aus der Natur, es wird so intensiv erlebt wie der Schmerz.

Ich vermute, dass die Glückserfahrung bei der Geburt unerlässlich ist, um dem Schmerz etwas entgegenzusetzen. Schmerz kann überwältigen, er kann, wenn er die Belastungsfähigkeit des Organismus übersteigt, bewusstlos machen. Aber bewusstlos zu werden bei der Geburt würde den Tod bedeuten, den der Mutter und womöglich auch den des Kindes. Wahrscheinlich wäre die Menschheit bereits ausgestorben, wenn die Gebärenden nur den Schmerz empfänden.

Dagegen hat sie offenbar einen Gegenmechanismus erfunden, der es ermöglicht, bei Schmerz zugleich auch Glück zu empfinden. Gesteuert werden beide – Schmerz wie Glück – natürlich von Hormonen.

Und Glück empfinden paradoxerweise ja auch die Frauen, die sich mit Messern Wunden schneiden oder mit Zigaretten brennen oder welche pfiffige Methode sie auch anwenden. Es ist naheliegend, dass hier derselbe Mechanismus aktiv wird, der bei den Wehenschmerzen zugleich auch Glück auslöst. Es ist sogar eine Abstufung von Glück festzustellen, die der Abstufung der Schmerzintensitität ungefähr entspricht – je stärker der Schmerz, umso grösser das Glück. Die Selbstverletzerin erlebt keinen Wehenschmerz, aber sie erlebt auch nicht das ekstatische Glück. Die betroffenen jungen Frauen beschreiben wie etwas sehr sanft angenehmes und beruhigendes. Es symbolisiert sich für sie in einer wohligen Wärme, die einem Tropfen Blut folgt, der ihre Haut hinabläuft und sie dabei sanft streichelt.

Vermutlich ist diese Fähigkeit, Schmerz in Glück umzuwandeln, an weibliche Sexualhormone gekoppelt. Ich weiss nicht, an welches der Sexualhormone das Geschehen gekoppelt ist. Vielleicht ist es Oxytocin, das die Wehen stimulieren soll und auch in den menschlichen Beziehungen aktiv wird, das auch bei der Verletzung eine angenehme Wohligkeit wie beim Kuscheln auslöst. Oder hier vielleicht bei dem Tropfen Blut, der bereits im Bild der Kuschelwohligkeit doch sehr nahe kommt, oder? Vielleicht ist es auch ein anderes, oder ein ganz eigener komplexer Cocktail. Das weiss ich nicht, das müssten Hormonforscher oder Biologen ermitteln.

Natürlich gibt es neben der biologischen Erklärung Umstände im Leben der einzelnen Frau und gesellschaftliche Faktoren, die begünstigen oder beschränken. Aber dazu in einem anderen Artikel.

Aber es gibt doch auch Männer, die sich verletzen?

Ja, die gibt es. Und das ist kein ausschliesslicher Widerspruch zu der oben entwickelten These. Keineswegs kommen weibliche Sexualhormone nur im Körper der Frau vor. Der männliche Organismus arbeitet ebenso mit weiblichen Hormonen wie der weibliche auch mit männlichen arbeitet. Weil sowohl Männer wie Frauen über das ganze Grundrepertoire von Fühlen, Denken und Handeln verfügen müssen. Frauen müssen wie Männer auch kämpfen müssen und brauchen daher das männliche Hormon Testosteron und Männer auch mitfühlen können wie Frauen und brauchen dafür das weibliche Sexualhormon Oxytocin.

Wenn man sich angesichts dessen fragt, warum die Hormone dann männlich und weiblich genannt werden, muss ich an die Biologen verweisen.

Jedenfalls wird aus diesem Umstand deutlich, dass auch das Empfinden des angenehmen Verletzens grundsätzlich auch Männern zur Verfügung stehen könnte. Vielleicht ist aber die Tatsache, dass die Konzentration der weiblichen Hormone bei ihnen im Regelfall geringer ist, die Erklärung, dass eventuell bei wesentlich weniger Männern bzw. Jungs z.B. die Schwelle einer nötigen Mindestkonzentration überschritten wird. So eine Erklärung wäre möglich auch mit der parallelen Beobachtung, dass Frauen wie Männer Aggression aufbauen und ausleben können, die an Testosteron gekoppelt ist. Dass Frauen aber wesentlich seltener die Schwelle überspringen und zuschlagen, die womöglich eine geringere Testosteronkonzentration setzt.

Ich äussere diese Überlegungen mit dem Charakter von Vermutungen, weil mir natürlich das biologische Wissen fehlt. Leider fehlt es allgemein auch an Forschung, die darüber Gewissheit geben könnte.

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