Selbstverletzung ist nicht heilbar

Der Kampf gegen Selbstverletzung ist zwecklos und verursacht nur Leid.

Wenn man die Landschaft der Therapieangebote in Deutschland (und Schweden) anschaut, so kennt sie nur einen einzigen therapeutischen Weg für die jungen Frauen, die sich Wunden zufügen: den Versuch, sie mit Druck, Strafen oder Belohnung davon abzubringen. Das Verfahren gehört zur Verhaltenstherapie und hat in immer neuen Auflagen der gleichen Richtung neue Namen wie aktuell die „Dialektisch-behaviorale Therapie“ (DBT).

Dieser Ansatz ist gescheitert. Denn er ist nie erfolgreich. Zwar behaupten seine AnhängerInnen das unverdrossen, doch die Realität schaut anders aus. Die Betroffenen durchlaufen eine Therapie nach der anderen, gehen immer wieder in Kliniken und Tageskliniken und kommen doch wieder heraus als die, als die sie hinein gegangen sind: Frauen, die sich Wunden zufügen. Erfolgsstatistiken werden mit (meist recht billigen) Tricks gemacht. Der einfachste davon ist: am Ende der Therapie hat die Klientin sich seit x Tagen laut eigenen Angaben nicht geschnitten. Wunderbar: jetzt kann sie entlassen werden und die Therapie als erfolgreich verbucht werden. Dabei hat sie sich nur am Ende mit aller Kraftanstrengung nicht mehr geschnitten, um endlich entlassen zu werden, ist ihr die Psychiatrie doch verhasst geworden. Gleich am selben Abend nach der Entlassung ist die Spannung nicht mehr zu bezwingen und sie schneidet sich wieder.

Kein Problem: sie kann erneut aufgenommen werden. Und die Tour geht von vorne los bis zu einem weiteren „therapeutischen Erfolg“. So kann das viele Jahre weiter gehen.

Statt darauf zu sinnen, wie die Erziehungstherapie verbessert werden könnte, welche Manipulationen aus Anreizen, Lohn oder Strafe zum Erfolg führen könnten, ist es Zeit, zu überprüfen, woran es liegt, dass das Zwangsverhalten immer über alle erziehungstherapeutischen Kniffe obsiegt, ob therapeutische Erfolge überhaupt möglich sind. Wenn man wirtschaftliche Interessen am Therapiegeschäft hat, als Krankenhauskonzern oder dergleichen, ist das nicht möglich. Aber wer darin keine Aktien hat, ist gut beraten, es zu tun.

Warum verletzen sich diese jungen Frauen eigentlich? Stellt man diese Frage, so trifft man in einer verwissenschaftlichten Welt auf erstaunlich wenig wissenschaftlich solides Wissen. Im Wesentlichen wird vermutet und Vermutungen um so wissenschaftlicher, je älter und öfter sie weitergegeben werden. Dabei gibt es Erkenntnisse, die nützlich sein könnten, z.B. aus der Endokrinologie, dem medizinischen Fachgebiet, das sich mit Hormonen und Neurotransmittern befasst, also den Stoffen, die im Körper Gefühle „sind“ und zwischen Gehirn und Nervensystem vermitteln. Jedes Gefühl und jede Empfindung, die wir haben, wird in solche Stoffen übersetzt und an Nervensystem und Organe weiter gegeben. Weil Hormone den ganzen Organismus verändern, können wir z.B. bei Angst schneller denken und schneller laufen.

Diese Wissenschaft hat heraus gefunden, dass manche Menschen in manchen Situationen von Verletzung und Verwundetheit Glückshormone ausschütten. Das Ausmass, in welchem das geschieht, ist nicht bei allen Menschen gleich.

Ich arbeite, darauf und auf eigenen Beobachtungen aufbauend, mit der Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen gewissen weiblichen Sexualhormonen und den Opioiden (Glückshormonen) gibt. Dass da, wo ein Höchstmass bestimmter weiblicher Sexualhormone ist, eine erhöhte Ausschüttung solcher Glückshormone stattfindet. Die Pubertät kennt einen Höchststand an Spiegeln von Sexualhormonen. Das würde erklären, warum Selbstverletzung so übermässig gehäuft bei weiblichen Teenagern vorkommt und selten bis gar nicht bei Kindern, älteren Frauen und Männern bzw. Jungs. Und warum es auch noch mal eine zweite, etwas geringere, Häufung in den weiblichen Wechseljahren gibt.

Dass weibliche Sexualhormone bei Verletzungen bzw. Schmerzreiz verstärkt Glückshormone ausschütten, ist plausibel und entspricht eigener Beobachtung eines erstaunlichen Phänomens: Frauen erleben die Wehen bei der Geburt bzw. die Geburt selbst, die erkennbar ein gewaltiger Schmerzzustand sind, sichtbar als einen ekstatischen Glückszustand. Dies gilt kulturell als selbstverständlich, ist es aber bei Nachdenken nicht. Hier muss ein sehr komplexes Geschehen auf hormoneller Grundlage vorliegen, das extremen Schmerz zu extremem Glück wandelt. Dass Schwangerschaft und Geburt mit hohen Spiegeln weiblicher Sexualhormone einhergehen, dürfte bekannt sein.

Weibliche Teenager haben ebenfalls einen hohen Spiegel an weiblichen Sexualhormonen, die bei Verletzungsverhalten mit dem Schmerz, analog zu denen in den Wehen, bei Schmerzreizen verstärkt die Ausschüttung von Glückshormonen anregen könnten. Damit wäre dann auch erklärt, warum das Verletzungsverhalten mit Ende der Pubertät abflaut und schliesslich verschwindet. Das geschieht nämlich ganz unabhängig davon, ob Therapie gemacht wird oder nicht, von ganz allein bis Mitte der 20er Lebensjahre. Bis dahin geben über 90 Prozent der Betroffenen die Selbstverletzung auf (nach Lehrbuchmeinung). Nach meinem Modell ist das logisch. Sinken die Spiegel der Sexualhormone, werden die Glückshormone bei Schmerzreiz nicht mehr so stark ausgeschüttet und die Verletzung damit nicht mehr als beglückend empfunden.

Gegen die Gewalt der Hormone ist Erziehung vollkommen zwecklos. Man hat es hier auf biochemischer Ebene mit denselben Kräften zu tun, die auch auf Drogenabhängige mit ihren Drogen einwirken. „Opioide“ sind die opiumähnlichen Substanzen; die Hormone, die beim Schmerzglück ausgesandt werden, also gewissermassen körpereigene Entsprechungen zu Heroin. Der Versuch, mit dem Zeigefinger gegen das Glück anzukommen, das in unglücklicher Stimmung gewissermassen durch ein körpereigenes Heroin ausgelöst wird, ist absurd lächerlich. Die junge Frau in Existenznöten kommt durch den Schnitt in eine Erleichterung, in einen Himmel der Glückseligkeit wie der Drogenabhängige, wenn er sich das weisse Glückspulver spritzt.

Wir kennen andere Herangehensweisen. Wenn wir schon von einer Sucht sprechen und mit den Drogen vergleichen, lohnt sich der Vergleich mit unserem Herangehen an Drogen. Da sind wir nämlich anders. Wer sich mit Heroin zerstört, bekommt von unserer Gesellschaft eine akzeptierende Drogenarbeit, das heisst: er darf seine Drogen im Schutze der Verschwiegenheitspflicht nehmen und wir stellen ihm das Material dafür: sterile Nadeln und dergleichen. Und wenn er Schritt für Schritt davon wegkommen will, bekommt er das Angebot von weniger schädlichen (wenn gleichwohl nicht unschädlichen) Ersatzdrogen. Aber die sich bei weitem weniger schädigenden Selbstverletzerinnen werden ohne jeden Selbstzweifel mit Erziehungsterror überzogen, der nur dem Sadismus von zynisch gewordenen Psychologen und Psychiatern dienen kann, aber auf den Seelen dieser jungen Frauen rücksichtslos herum trampelt.

Die Einsicht in die vollkommene Aussichtslosigkeit dieser Kämpfe kann auch zu viel positiveren Gedanken anregen. Und in Frage stellen, ob man überhaupt kämpfen muss. Wenn wir z.B. schon beim Vergleich mit den Drogen, gerade der gefährlichsten und tödlichsten, dem Heroin, sind, können wir ja auch mal fragen: wäre es besser, wenn sie Heroin nähme? Können wir nicht auch mal sagen: wie gut, dass sie das nicht braucht, dass sie es mit den natürlichen eingebauten Mitteln ihres Körpers lösen kann?

Statt in einem Sumpf von Drogen und Selbstzerstörung zu versinken, bewältigen diese jungen Frauen ihre Probleme und finden ein weitgehend harmloses Ventil für ihren Druck. Das ist doch auch eine bewundernswerte Fähigkeit, oder? Warum tun wir nicht etwas, das sie aufbaut, ihnen Mut macht und ihr pubertär geringes Selbstwertgefühl aufbaut? Das ist das, was alle in dieser instabilen Epoche des Lebens dringender brauchen als Vorwürfe, Diagnosen (Fehlerzuschreibungen!), Strafen, Lohn, Therapiepläne usw. etc.

Jede selbst gefundene Problemlösung ist wertvoller als eine gleich effektive Lösung, die jemand von aussen verschreibt. Denn sie lässt erfahren, dass man sich selbst geholfen, am eigenen Zopfe aus einem Sumpf gezogen hat. Das macht stark.

Und junge Menschen stärker machen, das ist die wahre Stärke und Freude aller Therapeuten und Pädagogen.

Die Jugendfreiheit

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