Nach dem Eindruck vieler Menschen gibt es immer mehr psychotherapeutisch behandelte Mitbürger, und auch Jugendliche. Statistiken stützen diese Vermutung. 2019 waren nach Krankenkassendaten 823.000 Kinder und Jugendliche in Behandlung, zehn Jahre zuvor waren es weniger als die Hälfte (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/121641/Immer-mehr-Kinder-und-Jugendliche-erhalten-eine-Psychotherapie) . Und obwohl dieser Wert schon so eine massive Steigerung darstellt, sind in der Coronazeit die Zahlen noch einmal explodiert. Inzwischen soll die Million überschritten sein.
Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wirklich alle ständig in Behandlung sind und die Therapie ebenso selbstverständlich zum jugendlichen Alltag gehört wie die Schule? Wenn eine Kurve immer weiter steigt, ist das die unvermeidliche Folge.
Zeit, sich einmal Gedanken zu machen, warum die Nachfrage nach Therapien immer weiter zunimmt. Und vielleicht auch, warum sie offenbar so erfolglos sind. Denn wenn sie das nicht wären, könnte die Zahl nicht immer nur zunehmen.
Auch bei dieser Frage beschränke mich in Bescheidenheit auf die Mädchen, um nicht ins zügellose Spekulieren zu verfallen. Ab dem Pubertätsalter machen sie ohnehin 2/3 der Psychotherapiepatientenschaft aus.
Wenn man die Zahlen der „Störungen“ Depressionen, so genanntes Borderline und Esstörungen zusammen rechnet, bekommt man einen sehr grossen Block. Würde man ihn noch um Autismus und ADHS erweitern, hat man fast alle Therapiekundinnen abgedeckt. Die Betroffenen beschreiben ihr generelles Empfinden ihrer Lebensrealität übergreifend als eine Art von Leere. Dieser recht wenig aussagekräftige Begriff wird oft noch ergänzt um „ich fühle mich nutzlos“ oder „überflüssig“. Vom Überflüssig-Fühlen ist es naturgemäss nicht mehr weit zu Fragen nach dem Sinn des (eigenen) Lebens und Gedanken um den Tod.
Wenn man weiss, dass die mit der Pubertät auftretenden Störungen zum grossen Teil im jungen Erwachsenenalter verschwinden, und zwar ganz gleich ob sie therapiert oder nicht/selbst behandelt werden – also gewissermassen von ganz allein, dann liegt die Vermutung nahe, dass ihr Dasein mit der Pubertät und ihren Lebensumständen mehr zu tun hat als mit Erkrankung oder Therapierung. Und dass ihr Verschwinden weniger auf einer Heilung beruht, die von aussen bewirkt wurde, als schlicht mit dem Erwachsenwerden.
Wenn man Veränderungen über Zeit verstehen will, braucht man die historische Perspektive. Also sollte man einen Blick zurück auf die Lebenswelt weiblicher Pubertierender werfen. Uns interessiert natürlich in erster Linie die Verselbständigung und Abnabelung aus dem Elternhaus. Heute geschieht die bei einem wachsenden Anteil junger Menschen, der ein Abitur erwirbt, irgendwo im Studentenalter. Wir lassen aussen vor, dass es auch Jugendliche gibt, die kein Abitur machen, weil der Trend zum Gymnasium als Einheitsschule und dem Abitur als Einheitsabschluss geht. Dies ist auch die primäre Lebenswelt von Jugendlichen in Therapien, die überproportional aus Mittelschicht-Haushalten kommen, die das Gymnasium besuchen und ein Abitur anstreben.
Für sie kann man die Verselbständigung noch nicht einmal mit dem Auszug aus dem Elternhaus, sondern irgendwo im Studentenalter verorten, weil Eltern das Studium und Lebensunterhalt zumindest mitfinanzieren und ein reges Pendeln zwischen Elternhaus und Studentenwohnung den Eltern immer noch grossen Einfluss auf das Leben der Tochter gibt. Die Verselbständigung mit dem Ende des Studiums bei 23 bis 25 Jahren und das Verschwinden der diagnostizierten Verhaltensweisen fallen also zusammen.
Wie waren die Lebenswelten früher? Mit einem Wort kann man schon mal zusammenfassen: ganz und gar anders.
In der griechischen und römischen Antike wurden Mädchen mit Eintritt der Pubertät nicht einer zweiten Kindheit namens „Jugend“ zugeordnet, sondern galten als heiratsfähig. Eine römische Patrizierfamilie verlobte Mädchen so, dass mit dem 12. Lebensjahr die Heirat mit einem jungen Mann anstand. Dabei sollte der schon in der Lage sein, seine Frau wirtschaftlich zu erhalten. In den Patrizierlaufbahnen konnte man davon ungefähr mit 25 ausgehen. Normal war also, dass das 12-jährige Mädchen das Elternhaus verliess, um im Haushalt eines doppelt so alten Mannes als Ehefrau und bald auch Mutter ihren Pflichten nachzugehen. Zwei Jahre später war das ehemalige Kind bereits Leiterin eines Haushalts und oft schon Mutter des ersten Kindes.
Mit 14 Jahren alle Pflichten und Freuden einer Mutter? Heute eine absurde Vorstellung? Die Mädchen sind doch nicht annähernd in der Lage dazu?
Die Menschheit der Antike sah das anders und schuf auf der Basis dieser ganz anderen Ansichten ganz andere Tatsachenrealitäten, in der diese 14-jährigen Mütter tatsächlich diesen Pflichten nachkamen. Aber, und das gehört dazu spiegelbildlich, auch die Chance hatten, die damit verbundene Anerkennung und Autorität zu erlangen.
Haben solche 14-jährigen Hausfauen und Mütter in der Welt wohl vor allem Leere empfunden? Oder sich überflüssig und nutzlos empfunden? Das kann man vor dem Hintergrund ihrer Lebensrealität wohl abbuchen. Wie die Selbstverletzungen und Magersucht-Hunger-Eskapaden heute verschwinden, wenn die Studentin in das Berufsleben eintritt und womöglich Familie begründet, so wird es auch damals gewesen sein.
Diese gesundere Psyche ist dabei mit Sicherheit kein Paradies, kein einfacher Glückszustand gewesen. Muttersein ist harte Arbeit. Eine sehr harte Arbeit, denn der Arbeitgeber gewährt keinen 8-Stunden-Tag und keinen Urlaub, Kindergärten waren noch nicht erfunden und so hatte die 14-jährige Mutter von früh bis spät ein hartes Los und nach dem Spät auch noch, wenn sie mitten in der Nacht aufstehen musste, um das Kind zu stillen oder zu wickeln. Wie heute auch noch.
In einem solchen Leben kommt kein Leereempfinden auf und man fühlt sich nicht nutzlos, bekommt man doch seinen Nutzen übermässig demonstriert.
Die Kur für solche psychischen Erkrankungen kommt nicht aus Pillen und nicht aus Sitzungen, sie kommt aus einer realen Aufgabe in der Welt, mit einer damit verbundenen grossen Verantwortung, aber auch dem Lohn einer sozialen Anerkennung. Wie sie keine Therapie simuliert oder je simulieren könnte.
Die Lebensumstände haben sich über die Jahrhunderte nicht so radikal verändert. Noch im 19. Jahrhundert werden 14-jährige Mädchen verheiratet. Erst die Industrialisierung ändert die Verhältnisse, und auch das nicht sofort. Dann kam die Einführung des Mindestehealters von 16. Und erst 2017 wurde das Ehealter gesetzlich auf das Volljährigkeitsalter angehoben, also vor gerade einmal sieben Jahren. Hier dokumentiert sich im Gesetzesbuchstaben, dass frühere Zeiten – selbst solche, die noch innerhalb unserer Lebensalter liegen, einer Generation Erwachsenheit zusprachen, die erst seit sehr kurzer Zeit voll der Kindheit zugerechnet wird.
Welche der jetzt lebenden 14-Jährigen malt sich wohl aus, dass sie, wäre sie nur sieben Jahre früher geboren, in 2 Jahren heiraten könnte? Und womöglich Mutter wäre?
Die Biologie ist so verrückt und widerspenstig, sich den Gesetzen der Politiker nicht anzupassen. Sie hat eigene Gesetze, die lange in die Genetik eingeschrieben sind. Sie wandeln sich, die Stufen des Affen, des Neandertaler, des heutigen Menschen sind ja solche Wandlungen. Aber ihre Zeiträume sind nicht hundert Jahre oder sieben, sie braucht dazu viele, viele Jahrtausende.
Mit dem Blick auf die Historik muss es nicht wundern, dass die Mädchen, die mit 12 oder vielleicht im Einzelfall auch erst mit 14, bereit zur Mutter, also zur Erwachsenen sind, sich in einer Welt leer und nutzlos fühlen müssen, die sie für Kinder hält und ihnen jegliche Verantwortung und jede Anerkennung als die Erwachsene verweigert, die sie nach ihren Anlagen bereits sein könnte.
Die ganzen Kräfte und Fähigkeiten, die sie in sich hat, stossen auf eine Welt, die sie partout übersehen möchte. Der Lebenszweck, um den sie kreisen soll, die Schule, kann das nicht ausgleichen. Schule ist ein Wechsel auf die Zukunft. In der Gegenwart verleiht sie keine Bestätigung, keine Anerkennung, wie die Schülerin eben auch zu nichts gebraucht wird, zu nichts nütze ist. So kann dieser zentrale Lebenszweck ihre Leere nicht auffangen.
Erklären kann sie sich das natürlich nicht. Die Welt sagt ihr, dass sie schuld sei, wenn sie ein diffuses Verlangen nach etwas mehr als dieser quälenden Nutzlosigkeit in sich spürt, dass sie ein braves und zufriedenes Kind sein soll. Dass sie das gar nicht sein kann, will diese Welt nicht wissen. Sie übt Druck auf sie aus, ihrer Forderung nachzukommen, noch einmal für ein langes Jahrzehnt ein Kind zu sein.
Kein Wunder, dass die verkannten Frauen eigentlich rebellieren müssten.
Dass sie das nicht tun, sondern stattdessen etwas anderes geschieht, gehört in einen weiteren Artikel